Zehn Thesen zur Ökonomie der Angst
Interview von Nicole Franken und Laura Reinert mit Prof. Reuter
Luxemburg, im Juni 2016
In seiner Einführung zur University meets Business Konferenz "Angst: Ansporn oder Blockade" der eufom University und der Chambre de Commerce am 2. Juni 2016 setzte Prof. Dr. André Reuter sich mit der Mathematisierung bzw. Formalisierung der Mainstream-Ökonomik kritisch auseinander. Dies veranlasste Nicole Franken und Laura Reinert, eufom-Studentinnen im laufenden 6. Bachelor-Semester, die "zehn Thesen zur Ökonomie der Angst" des Gründungsrektors der eufom University in einem Interview genauer zu hinterfragen.
Nicole Franken und Laura Reinert
Prof. Dr. André Reuter, Gründungsrektor der eufom University
Nicole Franken: Herr Prof. Reuter, Sie gehen in Ihrer Einführung zum Thema der heutigen University meets Business Konferenz mit der sog. Meanstream-Ökonomik ziemlich hart ins Gericht. Für einen quantitativ ausgewiesenen Wissenschaftler ver-wundert dies. So bemängeln Sie unter anderem, mit hochkomplexen Formeln werde eine Beherrschbarkeit der Wirtschaft suggeriert, welche die Ökonomik gar nicht einzulösen könne. Daher zwei Eingangsfragen: 1.) Weckt die Mathematisierung der Volks- und Betriebswirtschaftslehre falsche Erwartungen? Und 2.) Warum legen Sie dann in Ihren Vorlesungen und Übungen großen Wert auf formale Darstellungen?
Mathematische Modelle mit realitätsfremden Annahmen
Laura Reinert: Lassen Sie mich die Frage noch etwas ergänzen. Der Fokus auf mathe-matische Modelle mit eher realitätsfremden Annahmen führt zu einer weitverbreiteten Skepsis bezüglich des Erklärungsvermögen solcher Theorien zumal die Hochschulöko-nomen regelmäßig von der Heftigkeit wirtschaftlicher Verwerfungen ebenso über-rascht scheinen wie Otto Normalverbraucher. Lässt die Komplexität menschlichen Ver-haltens sich vielleicht einfach nicht in mathematische Formeln quetschen?
Prof. Reuter: Sie haben dreifach absolut Recht; 1.) menschliches Verhalten lässt sich nicht einfach in mathematische Formeln pressen. 2.) Die Väter der Mathematisierung der Volks- und Betriebswirtschaftslehre haben es zugelassen, dass völlig überzogene Erwartungen an dieses für eine Sozialwissenschaft neues Instrumentarium geweckt wurden und 3.) das Erklärungsvermögen mancher ökonomischen Theorien ist sehr bescheiden. Ganz unschuldig an dieser Entwicklung ist die Disziplin nicht.
Reinert: Warum kommt der Formalisierung der Ökonomik dann weltweit eine derart große Bedeutung zu?
Reuter: Weil so Manches offensichtlich falsch verstanden wird. Primäres Anliegen der Mathematik und mathematischer Modelle ist es nicht, die Realität zu erklären.
Primäres Anliegen der Mathematik ist es nicht, die Realität zu erklären
Reuter weiter: Zur Beschreibung und Untersuchung von ökonomischen Strukturen und Prozessen greift die Ökonomik gerne auf abstrakte mathematische Modelle zurück. Sie verlangen eindeutig definierte Annahmen und erlauben eine klare Beweisführung. Das Bündel der getroffenen Annahmen trifft allerdings in der Realität kaum zu. Es kann jedoch eine wichtige Erkenntnisfunktion bei der Entwicklung ökonomischer Theorien erfüllen.
Franken: Geben Sie uns ein Beispiel bitte?
Reuter: Zu den wichtigsten theoretischen Konstrukten der Ökonomik, die heute in keinem VWL-Lehrbuch fehlen, gehören der "vollkommene Markt" und der "Homo oeconomicus".
Franken: Die Lehre ist demnach von theoretischer und methodischer Einseitigkeit gekennzeichnet.
Reuter: In der Tat; historisch gesehen nimmt die Vielfalt der an VWL-Instituten gelehrten Theorien und Methoden stetig ab. Der Forderung nach einer größeren Methodenvielfalt wird entgegengehalten, dass die Verengung der aktuellen Ökonomik auf neoklassische Modelle didaktisch notwendig sei. Formal-mathematisch fundierte Erkenntnisse könne nur verstehen, wer zuvor viel Zeit in die Einübung von Grundlagen investiere.
Reinert: Nimmt die VWL damit nicht bewusst eine große Realitätsfremde in Kauf?
Reuter: Die Ökonomik hat sich explizit dafür entschieden, es mit dem Realitätsgehalt ihrer Axiome nicht so genau zu nehmen. Kein Geringer als Milton Friedman schreibt dazu in einem Essay über die Methoden der Ökonomik: “Truly important and significant hypotheses will be found to have ‘assumptions’ that are wildly inaccurate descriptive representations of reality, and, in general, the more significant the theory, the more unrealistic the assumptions […].” Mit anderen Worten Friedman begreift es als Tugend ökonomischer Theorie, dass ein Theorem richtig sein kann, obwohl seine Axiome falsch sind.
eufom-Studentin Laura Reinert
Reinert: Etwas weniger Mathematikgläubigkeit stünde der Ökonomik gut an.
Doch, kommen wir jetzt zu den Thesen, die Sie bei der UmB-Konferenz vorgestellt haben.
Die herrschende Mainstream-Ökonomik neoklassischer Prägung beruft sich im Wesentlichen auf das Konzept der Grenzproduktivitäten. Im Fokus stehen die Nutzen-maximierung der Privaten und die Gewinnmaximierung der Unternehmen. Die Ent-lohnung der Faktoren erfolgt nach der Grenzproduktivität oder dem Grenzertrag eines Faktors. Sie entspricht dem Ertragszuwachs, der durch den Einsatz einer zusätzlichen marginalen Einheit eines Produktionsfaktors erzielt wird. Mathematisch ausgedrückt handelt es sich dabei um die erste Ableitung der Produktionsfunktion. Der Grenz-ertrag ist also anscheinend berechenbar.
Reuter: Der „normale“ Ökonom glaubt an eine objektiv beschreibbare Wirklichkeit. Alles, was berechenbar ist, ist für ihn rational.
1. Die Neoklassik zwingt die Ökonomen zum Optimismus
Rationales ökonomisches Handeln bedeutet, dass der Homo Oeconomicus bei vollständiger Konkurrenz und Fehlen jedweder Informations-Asymmetrie seinen Ressourceneinsatz so plant, dass dessen Entlohnung dem jeweiligen Grenzprodukt entspricht. Dies gewährleistet nach Ansicht der neoklassischen Grenzproduktivitätstheorie automatisch eine optimale Faktorallokation.
Eine Ökonomie, in der alle Teilnehmer rational sind, entwickelt sich zwangsweise positiv. Die Neoklassik zwingt die Ökonomen mithin dazu, Optimisten zu sein.
2. Die Mainstream-Ökonomik leidet unter einem gravierender Beweisfehler
Mit diesem Theorieverständnis leistet die Mainstream-Ökonomik sich einen Zirkelschluss, einen sogenannten einen Hysteron proteron ....
Franken: einen Was?
Reuter: Ein Hysteron proteron ist ein gravierender Beweisfehler, denn wörtlich kommt das „Spätere“ vor dem „Früheren“. Die Neoklassik behauptet in der Tat, eine Aussage durch Deduktion zu beweisen, indem sie die Aussage selbst als Voraussetzung verwendet.
Fakt ist, dass die rein technisch angelegte Grenzproduktivitäts-Theorie bei Überführung auf die monetäre Preisebene unauflösbare Anomalien zeigt, die das ganze Konzept ad absurdum führen. Praktisch durchgesetzt hat sich die logische Widerlegung der Neoklassik bis heute allerdings nicht.
3. Die Neoklassik ist einfach zu schön, um wahr zu sein
Auf den Punkt gebracht heißt das, dass die Neoklassik einfach zu schön ist, um wahr zu sein. Das beste Beispiel dafür sind die brillanten mathematischen Theorien der modernen Finanzwirtschaft. Ich denke hier vor allem an das sog. High-Frequency Trading, HFT. Es ist zweifellos eine geniale Erfindung und das „nec plus ultra“ logischen Denkens.
Nichts desto trotz müssen wir der schlichten Tatsache Rechnung tragen, dass die Modellannahmen der Ökonomik nicht nur grob vereinfachend sind, sondern zudem kaum Bezug zur wirtschaftlichen Realität haben und schon gar nicht zur sozioökonomischen Wirklichkeit.
Die Nutzentheorie nimmt an, dass Menschen eine „Nutzenfunktion“ im Kopf haben, nach der sie allem, was ihnen im Leben begegnet, einen Nutzen zuordnen. In jedem Moment setzen sie dann ein rationales Optimierungskalkül ein, mit dem sie verschiedene Alternativen gegen¬einander abwägen, um dann diejenige auszuwählen, die ihnen insgesamt den größten Nutzen bringt. Dieses Kalkül wird auf den Konsum, politische Wahlen, die Liebe und alles Mögliche andere angewandt.
Nun wissen wir aber aus zahlreichen empirischen Studien, dass Menschen ihre Präferenzen von Situation zu Situation ändern. Zudem hält der normale Mensch sich nicht an die ihm unterstellte Nutzenmaximierung. Er optimiert kaum, sondern folgt meistens Daumenregeln und entscheiden zudem nicht jeder für sich, sondern in Bezug auf andere.
Und weil der Ökonom nicht in den Kopf der Menschen schauen kann, beobachtet er ihr Verhalten, sammelt Daten und unterstellt dabei, das menschliche Verhalten sei auf eine Nutzenmaximierung à la Neoklassik zurückzuführen.
eufom-Studentin Nicole Franken
4. Die Wirklichkeit enthält keine Informationen
Franken: In der Vorlesung haben wir gelernt, dass die Wirklichkeit Daten aber keine entscheidungsrelevante Informationen enthält.
Reuter: Absolut korrekt. Wirklichkeit wird durch individuelle Erfahrungen der Handelnden erzeugt und erklärt im Unterschied zur Realität reale Erscheinungsformen als Phänomene, die eine Wirkung haben. Insofern sind auch subjektive. emotionale Zustände der Wirklichkeit zuzurechnen, da sie Wirkung zeigen. Wirklichkeit ist etwas, das wirkungsvoll wahrgenommen wird.
Information entsteht erst dann, wenn der Mensch rational bzw. emotional einen Unterschied festgestellt. Ausschlaggebend für die berufliche und private Entschei-dungsfindung sind mithin vielfach emotionale Beweggründe - individuell in ihrer Ausprägung und in ihrer Wirkung.
Es gibt keinen emotionsfreien Menschen. Wir können Emotionen verdrängen und in unser Unterbewusstsein verschieben, aber auch dort beeinflussen sie uns.
5. Angst ist die Mutter aller Emotionen
Angst ist ein lebenswichtiges Urgefühl, das stets vorhanden ist. Je nachdem wie ich meine Angst spüre, entwickeln sich meine Emotionen. Deswegen ist es gerade in Zeiten großer diffuser Unsicherheit nicht nur für den Beruf, sondern auch für private Lebensumstände wichtig, sich mit der Grundemotion „Angst“ in unserer Persönlichkeit zu befassen.
Aus der Sicht der Ökonomie steht Angst als Oberbegriff für eine Vielzahl von Ge-fühlsregungen, die von einer Verunsicherung des Gefühlslebens ausgehen. Das ist keineswegs negativ zu sehen. Abhängig vom Grad der individuellen Risikoerfahrung und der persönlichen Kompetenzeinschätzung – beides sogenannte immaterielle Ressourcen unserer Informations- und Wissensgesellschaft - kann Angst als Kontrasterfahrung von aufregender Gefahrensituation und deren Bewältigung zu einer gewünschten Steigerung des Lebensgefühls beitragen.
6. Angst wirkt als Kontrasterfahrung leistungsbeeinflussend
Betriebswirtschaftlich relevante Angst ist eine leistungsbeeinflussende Empfindung, die auftritt, wenn sich der handelnde Mensch verunsichert fühlt. Grundsätzlich können wir zwischen konstruktiver und destruktiver Angst unterscheiden.
Konstruktive Ängste steigern die Leistungsbereitschaft bzw. Leistungsfähigkeit und aktivieren Leistungs- und Differenzierungspotenziale. Störend sind dagegen destruk-tive Ängste und hier ganz besonders sogenannte „emotionale Dissonanzen“, die auf-treten, wenn tatsächlich empfundene Gefühle und Emotionen im Widerspruch zu gewünschtem Handeln stehen.
Solche gefühlsbezogenen Diskrepanzen erzeugen zahlreiche Spannungen im Organisa-tionsalltag und schaden nicht nur dem psychologischen Wohlergehen, sondern auch dem Leistungsverhalten der Mitarbeiter. Destruktive Ängsten mindern und zerstören die Leistungsbereitschaft bzw. Leistungsfähigkeit von Menschen und bringen sie in die innere oder äußere Kündigung. Prof. Dr. med. Daniel Grubeanu und Ra. Dr. Andreas Ammer, die beiden Keynote-Referenten des Abends, haben diese Aspekte in ihren viel beachteten Ausführungen ausführlich angesprochen.
Prof. Dr. Daniel Grubeanu und Dr. Andreas Ammer
Hier können Sie den Bericht über die UmB-Konferenz "Angst - Ansporn oder Blockade" herunterladen.
7. Angst führt zu einer Fehlallokation von Ressourcen
In der ersten mir bekannten Langzeitstudie für Deutschland haben Panse und Stegmann bereits 1996 belegt, dass in einem Betriebsklima, das von Angst geprägt ist, persönliche Frustration und soziales Misstrauen herrschen. Kreativität und Motivation drastisch abnehmen. Nach dieser Studie werden die „Kosten der Angst“ wie folgt beziffert:
- Fluktuationen: 8,2 Milliarden Euro
- Innere Kündigungen: 34,8 Milliarden Euro
- Angstbedingter Medikamentenkonsum: 9,7 Milliarden Euro Alkoholkonsum: 25,5 Milliarden Euro
- Mobbingprozesse 15,3 Milliarden Euro Angstverursachte Fehlzeiten 9,2 Milliarden Euro
10 Jahre später, also 2006, kostete der falsche Umgang mit der Angst die deutsche Wirtschaft bereits mindestens 100 Milliarden Euro. 2013 dürften sich die negativen externen Effekte angstbezogenen ökonomischen Handelns bereits auf über 150 Milliarden Euro summieren.
Franken: In der Literatur findet man den Begriff der "German Angst". Sind die Deutschen besonders ängstlich?
8. Apokalyptisches Spießertum und antrainierte Hilflosigkeit
Reuter: Offensichtlich ja! Der Trend und Zukunftsforscher Matthias Horx meint dazu: „Die eigentliche Gefahr ist nicht die Krise, son dern der Angstkreislauf, der die Krise ständig verschärft" Und weiter: "Wir neigen zum apokalyptischen Spießertum". Diese Einstellung führe zu einer antrainierten Hilflosigkeit, "die irgendwann jeden, der noch aktiv für ein Ziel eintritt, verdächtigt".
Anbieter, die Erlöse aus angstbesetzen Themen generieren, tendieren dazu, Ängste intensiver darzustellen, als sie tatsächlich sind, im Bestreben, ihnen ökonomische Potenz zu verleihen. Bestimmte Medien und externe Experten gefallen sich darüber hinaus darin, als Angstunternehmer die öffentliche Diskussion anzuheizen.
Reinert: Lässt sich mit Angst gut Geld verdienen?
Reuter: Das Geschäft mit menschlichen Ängsten blüht. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Markt am Angebot oder an der Nachfrage wächst?
9. Mit Angst lässt sich gut Geld verdienen
Welche Blüten Angstgefühle treiben, weiß die Menschheit nicht erst seit gestern: Ablasshandel grassierte schon im Mittelalter und diente der scheinbaren Befreiung von Ängsten um das Seelenheil ein einträgliches Geschäft, das bereits Martin Luther anprangerte.
„Das Geschäft mit der Angst bedient kollektive Bedürfnisse", konstatiert Sabine Bode 2007 in ihrem Buch „Die deutsche Krankheit“. Die wachsende Nachfrage und die Fülle der Hilfsangebote am Buchmarkt sei ein Indikator für die Instrumentalisierung von Hilfe suchenden.
Von Vitaminmangel bis Antiaging, von Entgiftung über Fasten bis zur Aufbaukur lässt sich verkaufen, was vermeintliche Defizite auszugleichen verspricht, zur Erfüllung von Idealvorstellungen führen soll und angstbehaftete Gedanken einzugrenzen verspricht.
Franken: Wer heizt das Geschäft mit der Angst an?
Reuter: Geschäftsideen und Gewinnaussichten, die mit den Produktionsmöglichkeiten wachsen; die Entsolidarisierung der Genera tionen, die den Jungen keine angemessenen Chancen auf eine erfüllte berufliche Zukunft einräumt und schließlich die Politik, die Bedrohungsszenarien nicht entkräftet, sondern Verlustängste mit Hingabe schürt.
Franken: Und was sollen wir Ihrer Ansicht nach dagegen unternehmen?
Prof. Dr. André Reuter, Gründungsrektor der eufom University und Vorsitzender des Vorstands des "European Institute for Knowledge & Value Management
10. Resilienz ist unser Wort des Jahres
Reuter: Eine wichtige Aufgabe der Universität wird es in diesem Umfeld sein, Instrumente zu entwickeln, die dem großen Geschäft mit der Angst einen Riegel vorschieben nicht mit Verboten, sondern mit der Eröffnung von Perspektiven.
Unser Wort des Jahres 2016 wird „Resilienz" heißen.
Resilienz, das heißt die dynamische Fähigkeit eines Menschen, mit widrigen Um ständen und Situationen umzugehen, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen in Chancen umzuwandeln.
Eine realistische Selbst und Fremdwahrnehmung, die Überzeugung aus eigener Kraft etwas verändern zu können, ein konstruktiver Umgang mit Stress sowie weiterrei chende soziale und kommunikative Kompetenzen sind Schutzfaktoren, die dazu beitragen, dass Menschen an Krisen wachsen.
Franken, Reinert: Herr Prof. Reuter, wir danken Ihnen für dieses ausführliche Interview.